Die Geschichte wird meist folgendermaßen erzählt:
Was ist davon zu halten? Die Geschichte vom lügenden Kreter wird häufig als Beispiel für ein logisches Paradoxon, also eine in sich widersprüchliche Aussage, dargestellt. In Wirklichkeit ist sie dies gar nicht; die Geschichte hat eine ganz natürliche, absolut unparadoxe Erklärung.
Zunächst einmal muss die Frage geklärt werden, was es bedeutet, dass jemand ein Lügner ist. Leichter zu erklären ist, was es bedeutet, dass jemand ein wahrheitsliebender Mensch, also kein Lügner ist: es ist offenbar jemand, der immer die Wahrheit sagt. Ein Lügner ist per Definition jemand, der nicht wahrheitsliebend ist, also nicht immer die Wahrheit sagt. Für einen Lügner ist es also typisch, dass er gelegentlich etwas Unwahres sagt und sich gelegentlich, aber eben nicht verlässlich, auch an die Wahrheit hält. Natürlich ist auch jemand ein Lügner, der immer die Unwahrheit sagt; nur ist dies offenbar kein sehr intelligenter Lügner, denn man muss ja nur jede seiner Aussagen verneinen, um zu wissen, was "Sache" ist. Und damit wäre der Sinn des Lügens ja ziemlich zunichte gemacht.
Ein Dilemma aller Schilderungen, in denen die Geschichte vom Kreter als Paradoxon dargestellt wird, ist, dass zunächst einmal der Begriff des Lügners manipuliert werden muss, damit das Vorhaben nicht von vorn herein zum Scheitern verurteilt ist. Mit dem oben dargelegten natürlichen Begriff des Lügners würde das Vorhaben, ein Paradoxon zu konstruieren, sowieso nicht klappen. Deshalb muss zunächst einmal des Begriff des Lügners abgeändert werden: ein Lügner ist im Sinne der Paradoxon-Konstruierer jemand, der immer lügt; also ein Immerlügner. Nun gut, lassen wir uns des Arguments wegen eben auf diesen Begriff des Lügners ein; nehmen wir im folgenden an, der Kreter Epimenides hätte gesagt: Alle Kreter sind Immerlügner. Was ist nun von dieser Aussage zu halten?
Könnte es sein, dass diese Aussage wahr ist? Wenn wir einmal annehmen, dass die Behauptung von Epimenides wahr sei, dann wären alle Kreter Immerlügner; also auch Epimenides selbst. Seine Aussage wäre also gelogen; d.h. unwahr. Aus der Annahme, die Aussage von Epimenides sei wahr, folgte also, dass sie unwahr ist. Das ist nun in der Tat ein Ding der Unmöglichkeit. Dass die Aussage von Epimenides wahr ist, kann also nicht sein.
Vielleicht könnte es aber sein, dass die Aussage von Epimenides falsch ist. Nehmen wir dies also einmal an. Dann wären in Wirklichkeit nicht alle Kreter Immerlügner; es gäbe also einige (genauer: mindestens einen) Kreter, die gelegentlich die Wahrheit sagen – oder die möglicherweise sogar grundsätzlich wahrheitsliebend sind und immer die Wahrheit sagen. Dies ist in widerspruchsfreier Weise möglich, wenn es mindestens einen Kreter gibt, der kein Immerlügner ist.
N.B.: Welcher Spezies gehört nun eigentlich Epimenides an? Offenbar gehört er nicht zu den grundsätzlich wahrheitsliebenden Kretern, denn da seine Aussage (annahmegemäß) falsch ist, hat er ja mit eben dieser Aussage gelogen. Ob er ein Immerlügner oder nur ein Gelegenheitslügner ist, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen; beides ist möglich. Auf jeden Fall ist er einmal beim Lügen erwischt worden.
Die Quintessenz der Geschichte ist also folgende: Ein Kreter, der es mit der Wahrheit nicht immer genau nimmt, sagt: Alle Kreter sind (Immer-) Lügner. Dies wäre schlicht gelogen und an der Geschichte wäre überhaupt nichts Paradoxes, wenn es mindestens einen Kreter gibt, der (zumindest gelegentlich) die Wahrheit sagt – was wir doch hoffen wollen.
Jochen Ziegenbalg (ziegenbalg.edu(at)gmail.com)
P.S.: Ganz anders verhält es sich, wenn Epimenides sagt:
Dies ist in der Tat ein lupenreines Paradoxon, wenn (wie stets in diesem Text) "gelogen" im Sinne von "unwahr" oder "falsch" zu verstehen ist.
Denn aus der Annahme, dass die Aussage wahr sei, würde folgen, dass sie falsch ist, und aus der Annahme, dass sie falsch sei, würde folgen, dass sie wahr ist. Jede der Annahmen (und weitere Möglichkeiten gibt es nicht) führt also zu einem Widerspruch. Das heißt, die in Rede stehende Aussage ist ein Paradoxon.